Interview mit Gérard Castella: „Fussball ist mein Antrieb“

Sein Rucksack ist prall gefüllt, sein Hunger auf Fussball auch mit 66 ungestillt: Gérard Castella betreut als Ausbildungschef in der Nachwuchsabteilung Talente, coacht Trainer – und liebt es, über seinen Sport zu debattieren.


Gérard, was für eine Bilanz ziehst Du am Ende des Jahres 2019?

Eine sehr positive. Weil das Zusammenspiel mit vielen Leuten aus verschiedenen Bereichen ausgezeichnet funktioniert. Das ist die Basis, um nachhaltig und erfolgreich zu arbeiten. Der Beweis dafür sind unter anderem Felix Mambimbi und Esteban Petignat, die aus unserem Nachwuchs den Sprung ins Profikader geschafft haben.

Wie wichtig sind die Titelgewinne der U-Teams?
Es ist hocherfreulich, dass unsere U18 Schweizer Meister geworden ist. Die Junioren sollen Wettkämpfer sein und lernen, wie man ein Spiel gewinnt. Aber ihre individuelle Entwicklung ist noch wichtiger als das Resultat. Unser Hauptjob ist es, Jahr für Jahr zwei, drei, vier von ihnen soweit zu bringen, dass sich der Trainer der ersten Mannschaft für sie interessiert.

Was heisst: so weit bringen?
Es geht nicht nur um taktische und technische Qualitäten, sondern auch darum, was es bedeutet, Profi zu sein. Es geht um Fragen wie Respekt, Engagement, Haltung, Disziplin, Umgang mit Kritik. Und sie sollen richtig hungrig sein, wenn sie die Chance erhalten.

Wie gross ist bei YB das Reservoir an Talenten?
Wir können uns gewiss nicht beklagen. Viele Spieler gehören zu nationalen Auswahlen. Und sie alle profitieren bei ihrer Entwicklung davon, dass YB hochprofessionelle Strukturen bietet. Es steht sogar eine Mentaltrainerin zur Verfügung.

Du hast einen prall gefüllten Rucksack: Karriere als Spieler in der Nationalliga A, Clubtrainer auf höchstem Niveau, jahrelang Coach von Verbandsauswahlen, jetzt bei YB im Nachwuchs. Und auch mit 66 zeigst Du keine Müdigkeitserscheinungen.
Der Fussball ist mein Antrieb, mein Leben. Ich passe mich laufend an und bin bereit, mit neuen Technologien zuarbeiten und mich auch mit den Sozialen Medien auseinanderzusetzen. Ausserdem stehe ich immer noch gerne auf dem Platz und leite zwischendurch eine Einheit. Es ist ein Genuss, bei YB zu sein und in einem positiven Klima den Job zu machen.

Wird ein Fussballtrainer gar nie richtig pensioniert?
Ich kann nur für mich sprechen: Solange es die Gesundheit zulässt und ich Spass habe wie jetzt, mache ich weiter. Wobei: Eigentlich rechnete ich damit, beim Schweizerischen Fussballverband pensioniert zu werden, als ich dort mit 64 noch angestellt war.

Und dann?
Rief Christoph Spycher an und bot mir die Stelle an (schmunzelt) Ich dachte: Fantastisch, dass mich niemand beim SFV in den Ruhestand schicken muss, sondern ich den Zeitpunkt meines Abgangs selbst bestimmen kann. Manchmal muss man im Leben spüren: Jetzt ist der Moment, um etwas zu beenden und Neues anzufangen. Es hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt, weil ich es auch schätze, Teil eines starken Teams zu sein.

Du warst von 1977 bis 1979 Spieler bei YB. Wärst Du gerne nochmals 25 und heute in Bern aktiv?
Oh ja, weil ich dann in einer Mannschaft wäre, die Ambitionen hat, um Titel spielt und in europäischen Wettbewerben dabei ist. YB ist sehr attraktiv. Ich glaube, dass sehr viele Spieler gerne hier wären. 1977 waren die Verhältnisse zwar noch nicht wie heute, und doch erlebte ich zwei sehr schöne Jahre. Ich war erstmals weg von meiner Geburtsstadt Genf, musste mich in einer anderen Mentalität und in einer neuen Sprachregion zurechtfinden. Mir öffnete dieser Schritt in die Selbstständigkeit die Augen. Es war eine gute Lehre.

Welche Mentalität hast Du kennengelernt?
Bezogen auf den Fussball ist es die Kampfbereitschaft. In der Deutschschweiz war es damals so: Wer ein Kämpfer war, kam beim Publikum gut an. In der Romandie aber musstest Du der spielerische Typ sein, das war gefragt. Wir haben in unserem Land ganz viele verschiedene Mentalitäten: Lausanne ist anders als Genf, Bern anders als Zürich, Luzern anders als St. Gallen oder Basel. Aber diese Vielfalt ist eine Stärke der Schweiz. Denkst Du manchmal: Es wäre schön, nochmals Trainerin der höchsten Spielklasse zu sein? Nein! Dieser Job ist anspruchsvoller geworden, komplizierter als vor 20 Jahren.

Staunst Du, wie Gerry Seoane seinen Job macht?
Nein. Ich kenne ihn aus Trainerkursen und weiss seither: Er ist intelligent, versteht den Fussball, hat gute Ideen, einen klaren Plan und ist stark in der Kommunikation. Wir unterhalten uns sehr oft. Manchmal fragt er mich nach meiner Meinung. Das spricht auch für ihn: Er ist sehr offen und interessiert.

Seit Neuestem gehört auch Steve von Bergen zum Trainerteam von YB, er kümmert sich im Nachwuchs um die Verteidiger. Wie macht er sich?
Sehr gut. Er kann den Jungen vieles vormachen mit seiner immensen Erfahrung. Steve vermittelt seine Botschaften klar, die Spieler erhalten von ihm ein klares Feedback: Er korrigiert, lobt, und das alles in einem guten Ton. Erzeigt mir jedenfalls, dass er das Talent mitbringt, Trainer zu sein.

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Quelle: YB MAG Nr. 2 / 2019/20

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